Die Problematik der Temperierung
Grundproblematik der Temperierung ist die Definition der Tonabstände zwischen einzelnen Intervallen
und deren ästhetisch-akustischen und spielpraktischen Folgen.
Hierbei gibt es grundsätzlich zwei, sich antipodisch gegenüberstehende Extreme.
Die natürliche reine Temperierung, bei der die gewählte Tonart ihren ganz speziellen eigenen Charakter besitzen,
ein Wechsel in andere Tonarten und Harmonien, insbesondere aber ein echtes mehrstimmiges Musizieren, nahezu ausgeschlossen ist.
Das andere Extrem ist die gleichstufig / gleichschwebende Temperierung, bei der alle Tonarten, Harmoniewechsel und mehrstimmiges Musizieren ohne Einschränkungen möglich sind. Nachteil ist, daß alle Tonarten "gleich" klingen, der spezifische Charakter von Intervallen ist komplett eingeebnet.
Zwischen diesen Extreme gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Versuche durch ungleichmäßige Anpassungen der Tonabstände eine aufführungspraktische Lösung zu finden,
bei der einerseits die klanglichen Eigenarten der Tonarten bewahrt werden sollen, auf der anderen Seite, aber ein möglichst problemloses Musizieren in verschiedenen Tonarten möglich sein soll.
Die von Bach verwendete exakte Temperierung ist derzeit nicht bekannt.
Sie dürfte aber weder die reine Temperierung, noch die heute übliche gleichstufige / gleichschwebende Temperierung sein.
Die Titel seines Zyklus von Praeludien & Fuge in allen ver. Tonarten, das wohltemperierte Clavier Band I & II, deutet darauf hin,
daß es sich um eine wohltemperierte Stimmung handelt, also um eine Temperierung, die eben nicht der gleichstufigen / gleichschwebenden Temperierung entspricht,
darauf weist auch sein Umgang mit der enharmonischen Verwechslung in diesen Werken hin.
Bei den Orgelwerken war Bach zwangsläufig an die Temperierungen der betreffenden Orgeln gebunden,
somit dürften seine Orgelwerke in ver. Temperierungen erklungen sein.
Dabei klangen sie jedes mal ein wenig anders.
Bei den Vokalwerken ist die Temperierung ebenfalls nicht bekannt, aber von besonderer Bedeutung,
Vor allem die geistlichen Werken hat Bach aus Notenmaterial in unterschiedlicher Stimmtonhöhe gleichzeitig musizieren müssen. (→ siehe Exkurs Stimmtonproblematik.)
Je näher hier die Temperierung an das Schema der gleichstufigen / gleichschwebenden Stimmung angepasst ist um so weniger gibt es intonatorische Probleme,
Je näher sie aber dem Schema der natürlichen reinen Temperierung angeglichen ist, um so größere intonatorische Probleme sind zu lösen.
Verschiedene Temperierung:
Schon die alten Griechen erkannten am Monocord, daß man durch die Längenhalbierung einer Saite einen neuen Ton erhält,
der in seiner Schwingungszahl (Frequenz in Hz) genau doppelt so schnell schwingt wie die Saite in der Originallänge.
Die obere Oktave war entdeckt.
Da man die Länge einer Saite nicht nur halbieren kann, sondern grundsätzlich in verschiedene ganzzahlige Verhältnisse (z. Bsp.: 3:2 oder 6:5)
aufteilen kann, ergeben sich für diese Länge verschieden andere Töne, wodurch alle physikalisch reine Intervalle darstellbar sind.
1.) Die natürliche reine Temperierung:
Die Tonabstände einer Tonart werden aufgrund physikalisch-mathematischer Gesetzmäßigkeiten gebildet,
Grundlage ist die Teilung einer Saite in ganzzahligen Verhältnisse ( z.Bsp. 2: 1 oder 4:3 usw.) um die verschiedenen Intervalle zu bestimmen.
Die Halbtonschritte sind unterschiedlich groß, alle Intervalle werden rein gestimmt (also physikalisch-mathematisch exakt.)
Die Folge ist, daß der Quintenzirkel nicht geschlossen werden kann.
So ergeben z. Bsp. 12 aufeinander folgende reine Quinten (3:2) eine Differenz von ~23,5 Cent, dies entspricht in etwa einem 1/4 Ton (25 Cent.)
Diese Differenz ~ 23,5 Cent wird als Wolfs-Quinte, Orgelwolf oder pythagoräisches Komma bezeichnet.
Tonarten die natürlich rein gestimmt sind klingen absolut rein und besitzen eine eigene charakteristische "Tonartenfärbung / Tonartencharakteristik".
Ein reines Spiel ist nur in der betreffenden Tonart möglich, der Wechsel in jede andere Tonarten ist mit Einschränkungen verbunden,
da mit wachsender Anzahl an Vorzeichen die betreffenden Tonarten zunehmend unsauber klingen.
Streng genommen ist eine reine Stimmung nur für einstimmige Musikwerke geeignet.
2.) Die gleichstufige / gleichschwebende Temperierung:
Alle Halbtonstufen innerhalb einer Oktave werden durch gleichgroße Abstände dargestellt,
das pythagoräische Komma wird auf alle Quinten gleichmäßig verteilt, die Quinten sind also verstimmt,
die Oktave ist als einziges Intervall rein gestimmt, alle anderen Intervalle sind verstimmt, mehr oder weniger unsauber.
Der Quintenzirkel kann geschlossen werden, und das Spiel in allen Tonarten ist problemlos möglich
Die Folge ist das alle Tonarten unrein sind, sie klingen uniform gleich und haben ihr typische "Tonartenfärbung" verloren.
Lösung:
Es wird versucht zwischen den zwei Extremen akzeptable Mischformen zu finden,
bei denen möglichst viele der benötigten Haupttonarten bzw. Intervalle möglichst rein oder nur geringfügig unsauber klingen
und somit möglichst viele Tonarten innerhalb eines Musikstückes verfügbar werden.
Hierbei wird die Oktave immer rein gestimmt und es wird versucht eine möglichst große Anzahl an sauber gestimmten Terzen und/oder Quinten zu bewahren.
Alle anderen Intervalle werden eingepasst und sind damit mehr oder weniger unrein.
Dabei gibt es verschiedene Möglichkeit, wodurch sich eine bunte Fülle an Temperierungssystemen ergibt.
Bestimmte Tonarten sind innerhalb dieser Systeme relativ rein und behalten ihre charakteristische Tonartenfärbung.
Modulationen in andere Tonarten sind innerhalb solcher Systeme in der Regel im Bereich von ca. -/+ 3 Vorzeichen sehr gut möglich,
weiter entferntere Tonarten klingen mit zunehmender Anzahl an Vorzeichen immer unsauberer, nicht mehr wirklich brauchbar.
Dies wird von den Komponisten aber zum Teil auch bewusst genutzt, z. Bsp. um bestimmte Stimmungen auszudrücken.
So in der Buxtehude zugeschriebenen Abendmusik "Wacht! Euch zum Streite" (Das jüngste Gericht.)
Eine der Arien der bösen Seele erklingt in cis-moll, diese Arie klingt z. Bsp innerhalb der zur Zeit Buxtehudes gebräuchlichen Stimmungen,
(z. Bsp der Werckmeister-Stimmung oder eine mitteltönigen Temperierung) extrem hart, ja regelrecht unsauber.
Entscheiden ist, daß dies durch den Komponisten so gewollt ist/sein kann, um den betreffenden Inhalt des Textes musikalisch darzustellen.
Bei der Arie von Buxtehude in der ihm zugeschrieben Abendmusik "Wacht! Euch zum Streite" (Das jüngste Gericht) geht unter anderem
um das Betrunken sein, wer trifft in diesem Zustand die Töne noch sauber?!
Vereinfachter Vergleich der reinen Temperierung und der gleichstufigen Temperierung:
(ohne Berücksichtigung der enharmonischen Verwechslung)
Teilungsverhältnis | Intervall zum Grundton | Grundton c = 249 Hz | Differenz | reine Temperierung | gleichstufige | Differenz | |
Frequenz des Tones | Frequenz des Tones | ||||||
1:1 | Prime | 249 = c | 249 | 0 | 0 | 0 | 0 |
16:15 | kleine Sekunde | 265,6 = cis | 263,81 | -1,79 | 111,74 | 100 | -11,7 |
9:8 | große Sekunde | 280,1 = d | 279,49 | -0,61 | 203,9 | 200 | -3,9 |
6:5 | kleine Terz | 298,8 = dis | 296,11 | +2,69 | 315,6 | 300 | -15,6 |
5:4 | große Terz | 311,3 = e | 313,72 | +2,42 | 386,3 | 400 | +13,7 |
4:3 | reine Quarten | 332 = f | 332,34 | +0,34 | 498,0 | 500 | +2,0 |
45:32 | natürlicher Tritonus | 350,2 = fis | 352,14 | +1,94 | 590,2 | 600 | +9,8 |
3:2 | reine Quinte | 373,5 = g | 373,08 | -0,42 | 702,0 | 700 | -2,0 |
8:5 | kleine Sexte | 398,4 = gis | 395,26 | -3,14 | 813,7 | 800 | -13,7 |
5:3 | große Sexten | 415 = a | 418,77 | +3,77 | 884,4 | 900 | +15,6 |
9:5 | kleine Septime | 448,2 = b | 443,67 | -4,53 | 1017,6 | 1000 | -17,6 |
15:8 | große Septime | 466,9 = h | 470,05 | +3,15 | 1088,3 | 1100 | +11,7 |
2:1 | Oktave | 498 = c' | 498,00 | 0 | 1200 | 1200 | 0 |
NB.:
100 Cent = 1 Ganzton
50 Cent = 1/2 Ganzton
25 Cent = 1/4 Ganzton
12,5 Cent = 1/8 Ganzton
... = ...
100/n = 1/n Ganzton (n < 0)
* Berechnung für gleichstufige/gleichschwebende Temperierung:
mit f =Ausgangsfrequenz des Grundtones und I Halbtonschritt
Enharmonische Verwechslung
In einer reinen Temperierung und bei ungleichschwebende Temperierungen sind die Tonabstände der Halbtöne
cis / des
dis / es
eis / f
fis / ges
gis / as
ais / b
his / c
nicht gleich, z. Bsp. sind die Töne cis und des unterschiedlich hoch bzw. tief.
die Folge für Tasteninstrumente ist, daß für jeden Halbton zwei verschiedene Tasten benötigt werden (geteilte Tasten).
Solche Instrumente wurden gebaut, haben sich jedoch in der Spielpraxis als unbrauchbar erwiesen.
Bei den gleichstufigen/gleichschwebenden Temperierungen wird daher eine Ausgleich zwischen diesen Differenzen gesucht
und bei Tasteninstrumente gibt jeweils nur eine Taste pro Halbtonpaar.
(Einige alte Orgel habe für die wichtigsten Halbtöne z.Bsp cis/des geteilte Tasten)
In der gleichstufigen Temperierung gibt es keinen Unterschied mehr zwischen diesen Tönen,
daher gibt es auch keine geteilten Tasten, sie sind nicht mehr nötig..
Copyright © 2002 - by Jochen Grob
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Quellen siehe Literaturverzeichnis