Zur Bedeutung des Stimmtones in der "historischen informierten Aufführungspraxis"

Der Ton aber, »in welchem die Orchester zu stimmen pflegen, ist nach Beschaffenheit der Orte und Zeiten immer sehr verschieden gewesen«

(Reprint der Ausgabe Berlin 1752, § 6, S. 241)

 

Johann Joachim Quantzens,
Königl. Preußischen Kammermusikus

Versuch einer Anweisung
die
Flöte traversiere zu spielen;

mit verschiedenen,
zur Beförderung des guten Geschmackes
in der praktischen Musik
dienlichen Anmerkungen
begleitet,
und mit Exempeln erläutert.

Nebst XXIV. Kupfertafeln.

BERLIN
Johann Friedrich Voß. 1752

Heutzutage werde die Instrumente in der Regel mit einem einheitlichen Stimmton gestimmt.

Aber!

zur Zeit Bach (und den meisten Musik-Epochen) gab es keinen einheitlichen Stimmton für alle Instrumente/Vokalstimmen,
die Höhe des Stimmtons war von Ort zu Ort und oft innerhalb eines Ensembles verschieden!

Dies hat zur Folge, daß je nach Instrument/Vokalstimme der Stimmton a unterschiedlich hoch war, d.h. innerhalb eines Ensembles wurde gleichzeitig mit ver. hohen Stimmtönen gespielt.
Um ein gemeinsames Spiel der Instrumente/Vokalstimmen zu ermöglichen, mussten somit Notenmaterialien, zum Ausgleich, in unterschiedlichen Tonarten verwendet werden.

Wurde ein Werk der weimarer, köthener oder frühen leipziger Zeit (bis ungefähr Juni/August 1724) später in Leipzig wieder aufgeführt,
musste Bach unter Umständen das Notenmaterial anpassen, entsprechend transponieren, ja sogar Instrumente und in die Komposition eingreifen (z. Bsp. Stimmknickungen BWV 182) austauschen.

Als Bsp. sei das Magnificat in Es-Dur genannt. Welches er bei der EA 02. Juli 1723 (ohne weihnachtlichen Einlagen) bzw.
der WA im Vespergottesdienst an Weihnachten, dem 25. Dezember 1723 (mit weihnachtlichen Einlagen) im Kammerton a = ~ 392 -  395 Hz und dem Chorton von a = ~ 463 - 467 Hz aufführte.

 

a ~

Tonart

392 - 395 Hz

Es-Dur

415 - 421 HzD-Dur

463 - 467 Hz

C-Dur

 

Bei der WA um 1732/1732 musste er das Magnificat nach D-Dur transponieren, da nun der Kammerton bei a = ~ 415 - 421 Hz und der Chorton bei a = ~ 463 - 467 Hz lagen.
Im "Suscepit" musste die Trompete durch eine Oboe ersetzt werden. Die Flauto dolce wurde durch eine Flauto traverso und die Oboe mit einer Oboe d'amore ersetzt.
Es gibt zahlreiche harmonische Eingriffe, veränderte Stimmführungen

Die heutige Praxis, auch bei Ensemble der historischen Aufführungspraxis, aus Notenmaterialien mit einheitlicher Tonart und einheitlichem Stimmton zu spielen,
entspricht nicht der Spielpraxis von Johann Sebastian Bach. Selbst bei der Verwendung historischer Nachbauten oder Originalen von Instrumenten der Bachzeit,
führt dies, aufgrund physikalischer Phänomenen, zu Nachteilen im Klangbild, es entsteht ein Klangbild, daß nur mehr oder weniger dem Klangbild der Bachzeit angeglichen ist.

So klingen z. Bsp. die mit einem tieferen Stimmton gespielten Holzbläser grundtöniger, d. h. sie haben einen weicheren runderen dunkleren satteren Klang.
Saiteninstrumente klingen bei höheren Stimmtönen und der damit einhergehenden höheren Saitenspannung heller silbriger aktiver aggressiver
 durchdringender.
Oft sind aufgrund der dadurch veränderten Saitenspannung auch Saiten anderer Dicke und/oder Materialien nötig, das Schwingungsverhalten ändert sich.
Ein wiederum verändertes Klangbild ist die Folge. Die klangliche Verschmelzung von Vokal- und Instrumentalstimmen verändert sich.

Allein anhand des Grundtones können wir nur die Tonhöhe eines Tones feststellen!
Bei Tönen die nur aus reinen Sinusschwingung bestehen, können wir allein nur die Tonhöhe feststellen.
Natürlich Töne besitzen aber immer ein sehr spezifische Spektrum an Obertönen.
Obertöne sind entsprechend mehr oder weniger stark mitschwingende Teiltöne, ganzzahlige Vielfache des Grundtones.
Wie stark und welche dieser Teiltöne mitschwingen hängt von physikalischen Parameter wie Materialien, Bauweise der Instrument,
physiologische Voraussetzungen
 einer Vokalstimme, Spieltechnik, Gesangstechnik usw. ab.
Dies kann gezielt zur Klangänderung eingesetzt werden, so z. Bsp. beim Obertonsingen oder das Flageolett-Spiel bei Streichern.

Zur Klangänderung führen auch ver. hohe Stimmtöne bei, verändert sich dieser, gibt es auch Veränderungen in dem für uns wahrnehmbaren Bereich spezifischen Obertonspektren.
Durch die beim Spiel eines Instrumentes / dem Singen entstehenden Obertonspektren ist es uns möglich die Klangfarbe eines Instrumentes / Stimme  zu bestimmen.
Ändert sich die Höhe des Grundton, ändert sich die Zusammensetzung
 der Obertöne, die Farbe des Instruments/der Stimme verändert sich.

Nur durch diese spezifische Obertonspektren sind wir in der Lage zu identifizieren welches Instrument gespielt wird, welche Singstimme singt.
Eine Vokalstimme z. Bsp. können wir durch diese Obertonspektren als Knabenalt - Frauenalt - Altus - Falsettstimme
 - Kastraten erkennen.
Würden wir nur den Grundton z. Bsp. einer Violine hören, wären wir nicht in der Lage diese als Violine zu identifizieren.
Hierzu sind zwingend die Obertöne nötig. Beim Gesang sind die Obertöne auch sehr wichtig für die Vokal-Wahrnehmung, sogenanntes Formanten-Problem.
Bei Knabenstimmen, Frauenstimmen bzw. falsettierende Männerstimmen kann ab einer gewissen Höhe der Vokal nicht mehr identifiziert werden.
Die hierzu notwendigen Obertöne liege so hoch, daß diese außerhalb der Wahrnehmungsfähigkeit des menschlichen Gehörs liegen.

Betrachteten man dann auch noch die Temperierung(en) der Bachzeit, so kommt man zu komplexen akustischen Phänomenen,
die das Klangbild wesentlich bestimmen. Sie führen zu einer in der Summe nicht zu vernachlässigenden Klangänderung.

Es wäre die Frage zu stellen, ob die sogenannten Urtext-Ausgaben, nicht auch diesen Umstand wieder herstellen sollten?
Muß sich die derzeit etablierte "historische Aufführungspraxis" nicht verändern um eine möglichst genaue Annäherung an den "Originalklang" der Werke zu erreichen?

Copyright © 2002 - by Jochen Grob
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Quellen siehe Literaturverzeichnis

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